Fresh in Flensburg #18: Jeans

Wohnungen sind wie Jeans.

An unserer letzten Adresse in München wohnten wir 16 Jahre. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie ungewohnt und neu sich alles in der ersten Zeit angefühlt hat, aber ich weiß, dass es so war. Wir vergrößerten uns von ca. 60 auf 100m², und das Mehr an Platz war toll. Wir füllten die Räume relativ schnell mit Zeug und mitgebrachten Erinnerungen, mit Wünschen und Ideen, was die Zukunft sicher alles bringen wird; einige der Ideen waren Leihgaben und eigentlich schon lange über ihrem MHD, aber das begriffen wir erst nach und nach.

Das Haus war dabei ein wenig wie ein neues Kleidungsstück, das schon beim Kauf mit Hoffnungen überfrachtet wird. Mit diesen Schuhen werde ich endlich zu joggen beginnen! In diesem Kleid kann ich auf legendäre Parties gehen! Diese Leggings machen mich zum Yoga-Monster! Dieses Shirt wird großartig in den Nachrichten aussehen, wenn ich den Nobel-Preis für planloses Gärtnern in Empfang nehme! Diese Jeans rückt meinen Hintern gut ins Spotlight!

Aber wie es so ist mit neuer Kleidung: Erst wenn man sie trägt, lernt man sie richtig kennen und sieht, ob und wie sie wirklich passt, was man in ihr machen kann und machen möchte. Die Sneaker sind klasse, aber ich gehe lieber damit spazieren als joggen; das Kleid ist schön, aber es bringt nicht automatisch mehr Parties in mein Leben; die Leggings machen meine bessere Hälfte rollig, aber das mit dem Yoga wird irgendwie nichts; das Shirt ist nur meh, und ich finde Gärtnern doof.

Erst wenn man sich wirklich auf ein neues Domizil und dessen Umgebung einlässt, und versteht, wie es bewohnt werden möchte, kann es sich richtig anfühlen. In unserer alten Wohnung brauchte dieser Prozess tatsächlich ein paar Jahre. Wir räumten sie ein, um, um, um, aus, ein, um, aus, um — und irgendwann fanden wir zusammen eine gute Balance bei Möbeln, Deko, Licht und Freiraum, die für uns Drei1 passte. Das war schön.

Die Jeans formte den Hintern also etwas anders, als wir anfangs dachten — aber sie saß nach einiger Zeit verdammt gut.


Wir sind jetzt etwas mehr als drei Monate hier oben. Ich habe mich eingelebt, auch wenn die ersten Wochen innerhalb und ausserhalb der eigenen vier Wände alles fremd erschien. An manchen Tagen habe ich immer noch das irritierende Gefühl, dass ich hier nur als Gast bin und demnächst wieder heimfahren muss, aber auch das wird vergehen. 😂

Kollage aus drei Fotos: Blick vom Westen her auf den Südermarkt über Kirchenvorplatz, zur Linken ein großer alter Laubbaum; Schriftzug auf einer blauen Mauer, 'Woher du auch kommst, woran du glaubst, welches Geschlecht du hast, wie jung oder alt du bist, welches Handicap du hast oder wen du liebst — Flensburg liebt dich. So wie du bist!'; drei Stühle vor einer Wand mit Grafitti an einem Gehsteig, auf den Stuhllehnen steht 'Moin'
Flensburg ❤️ Dich: so steht's an vielen Stellen, und bisher sehe ich keinen Grund, daran zu zweifeln.

Wir kamen mit wenig, merkten aber recht schnell, dass wir immer noch zu viele Möbel besaßen. Wir mochten sie nach wie vor, aber manche funktionierten einfach nicht in der neuen Bleibe: Der Platz war zwar vorhanden, aber die Wohnung selbst war nicht der richtige Platz für sie. Wir fanden ihnen also ein neues Zuhause in der Nachbarschaft, in Dänemark und in Hamburg. #noWaste

Dafür kamen neue Stücke in unsere Wohnung, mit denen wir und die Räume sich wohlfühlen. Das meiste steht da, wo es stehen soll, wo es sich derzeit richtig anfühlt. Nicht zu leer, nicht zu voll, alles da inklusive Luft zum Atmen.

Anders ausgedrückt: Die neue Jeans sitzt tight und mein Arsch sieht fantastisch darin aus.

Zeit, neue Leute kennenzulernen!


Die Flensburger Innenstadt besteht gefühlt zu 20% aus Leerstand, zu dem Corona und Lockdowns sicherlich ihren Teil beigetragen haben. Der traurige Blick der verwaisten und verschlossenen Geschäfte folgt den Besucher:innen, die durch Große Straße, Holm und Norderstraße schlendern. Das ist ein grundsätzliches Problem wie in vielen anderen Städten auch; wenn sich der Leerstand ausbreitet, wird die Gegend unattraktiver für die Anwohner, die zivile Gesellschaft und Geschäftstreibende.

Wie ich in dieser Woche bei einem spontanen Besuch in der coolen kleinen Urbanica Art Gallery2 im schnieken Käthe-Lassen-Hof erfahren durfte, investiert Flensburg in eine Abteilung Innenstadtmanagement! Dieses hat die Aktion “Deine Innenstadt, Deine Ideen” ausgerufen, und in der Urbanica einen entsprechenden Workshop veranstaltet. Mit 630.000€ im Fördertopf sucht FL nach neuen Ideen, um seinen Kern zu beleben. Ich kam schnell mit Emin (Urbanica + ein halbes Dutzend andere Ventures) und Bela, Jenny & Sönke (Stadt FL) ins Gespräch über Möglichkeiten, Ideen und gesellschaftliche Fragen (“Wem gehört die Stadt, der öffentliche Raum?" etc.). Gute Themen!

Mein Lamento “Mir fehlt Co-Working in der Stadtmitte” beantwortete Bela grinsend mit “Wir helfen Dir mit den Anträgen, wenn Du selbst einen Space eröffnen willst!!". Will ich? Uh… nicht im Moment, aber gut zu wissen, danke! 😉

Aussagen wie diese trugen zum Eindruck bei, den ich aus diesen 2h mitgenommen habe: hier sind Menschen, die tatsächlich an Ideen und Brainstorming interessiert sind; die helfen wollen, Projekte auf die Straße zu bringen; und die unsere Stadt dabei nicht zwangsläufig als Initiatorin, aber definitiv als Möglichmacherin sehen. 👍🏼

Und ja: nur Förde, Flens-Brauerei und Fahrzeugbau allein reichen nicht aus, um eine prosperierende, attraktive und lebenswerte Stadt zu erhalten. Was diese auch anerkennt und aktiv vorantreibt, mit dem “Flensburg 2030”-Stadtentwicklungsprozess und dem Bekenntnis zur Neuen Leipzig Charta3: sie will grün (ökologisch, umweltfreundlich), gerecht (sozial) und nachhaltig-produktiv (ökonomisch) bleiben und/oder werden. 3 von 3, genau mein Ding!


Dieser Post ist Teil meines “Fresh in Flensburg”-Newsletters. Ab Mitte April 2022 schreibe ich für knapp 6 Monate jede Woche eine Mail mit Eindrücken, Erlebnissen und vielleicht auch Fotos zu und aus “meiner” neuen Stadt. Ausgabe #25 wird das Staffelfinale.

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  1. D, das Haus & ich. ↩︎

  2. Web, Instagram↩︎

  3. Lesenswert: “Die Neue Leipzig-Charta ist das Leitdokument für gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung in Europa. Sie formuliert konkrete Handlungsdimensionen und Schlüsselprinzipien guter Stadtpolitik." ↩︎

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Carlo Zottmann @czottmann