Während wir 2017-2020 das noch junge RECUP aufbauten, mit all den Experimenten für ein besseres Miteinander im Arbeitsalltag, mit den ersten offenen Gehaltsrunden im gesamten Team 1, mit dem Anspruch von maximalmöglicher interner Transparenz, mit der fehlenden oberen Begrenzung des jährlichen Urlaubsanspruches (a.k.a. “nimm Urlaub, so viel Du möchtest”) etc. — damals sagte ich mehr als einmal im Scherz zu meinen Leuten “Alle, die hier anfangen, werden für ihr weiteres Berufsleben komplett versaut”, weil ich aus Erfahrung wusste, dass wir sehr viele Dinge (bewusst) anders machten als die meisten anderen deutschen Startups und Unternehmen.
Und… ich hatte Recht damit. Ich fühle mich versaut für die Jobs und Gigs, die da noch kommen werden. Es waren fünf Jahre mit sehr viel Arbeit — mit sehr sehr viel Arbeit —, in denen ich echt viel gelernt und mega viel Freude erfahren habe als Teil einer großen Herde von Qualitätsmenschen. Die Kehrseite: die volle Identifikation mit der eigenen Firma und die feste Überzeugung, etwas wirklich Wichtiges zu tun, ließ mich auch vergessen, öfters mal abzuschalten und nach der Startup-Phase eine gesunde Balance zwischen Arbeit und dem eigenen Ich wiederherzustellen. Mein Burnout hatte Gründe, you know?
ABER.
Vor RECUP war die Antwort auf die Frage nach meinem “Plan” oder meiner “Vision” immer ein emphatisches “Uuuuuuhhhh…". 2 Ich hatte keinen Plan, wo ich in X Jahren unbedingt sein möchte, und daran wird sich auch nichts ändern, because that’s how I roll. Das Leben ist ein Fluss, ich lass mich treiben und schaue, dass ich mir an den Steinen im Wasser nicht die Nase aufschlage, und sehe trotzdem viel von der Welt.
Aber meine “Vision” kann ich seit ein paar Jahren überraschend gut umschreiben:
Ich möchte an etwas Sinnvollem arbeiten, zusammen mit Menschen, die mir wichtig sind und die mich inspirieren.
Das klingt klein, wenig “visionär” und erfrischend vage, und das ist beabsichtigt. Die Definition von “etwas Sinnvolles” kann sich immer wieder mal ändern, in Größe und Thema, ich erwarte nur von mir selbst, ehrlich zu mir zu sein. 3
Ein paar Beispiele: Ist Müllvermeidung sinnvoll? (Absolut.) Die Vermittlung von Wissen? (Ja.) Das Bauen von Dating-Plattformen? (Nein.) Das Produzieren von Kram, um Kram verkaufen zu können, damit Menschen etwas zum “shoppen” haben? (Nein.) Das Abfedern unseres Klimafuckups? (JA.) Business-Improv-Theater bei Xing oder LinkedIn? (GTFO.) Das Streiten über Web-Frameworks und Programmiersprachen? (Nicht mehr.) Der ganze Hustle des Hustles wegen? (Nope.)
Wie auch immer ich für mich “sinnvoll” definiere, das ist relevant. Wenn ich dann für mich ein Betätigungsfeld als sinnhaft identifiziert habe, welches ich auch bestellen möchte 4, dann sind meine Zeit und Energie dort gut investiert, und dann kann ich auch Rückschläge bei der Arbeit besser verkraften.
Früher™ war ich meist als Einzelkämpfer unterwegs mit meinen Ideen und Projekten. Aber alles allein umsetzen zu wollen und/oder alles selbst bestimmen und beeinflussen zu wollen, das kann Dich ausbrennen. Nehmen wir RECUP als Beispiel: ich wollte 2017 etwas gegen die Einwegbecherflut tun, aber anstatt mich damals mit Flo, Fabi und Johanna zusammenzutun, hätte ich auch versuchen können, in Konkurrenz ein eigenes Mehrweg-Pfandsystem auf die Beine zu stellen (“CarloCup”). Vielleicht wäre es mir auch gelungen, wer weiss? Ich gäbe dann vielleicht Interviews, wäre in mehr Podcasts zu Gast, die Landesregierung in München hätte mich zum Verdienten Geschäftsmenschen des Bayrischen Volkes gekrönt, und ich könnte mir steigende Chancen auf eine zukünftige Kanzlerschaft ausmalen oder so. Aber was hätte das gebracht — nicht nur mir, sondern uns als Gesellschaft?
CarloCup und RECUP hätten vermutlich irre viel Energie mit dem Konkurrieren verbrannt. Aber es war sinnvoller, stattdessen diese Energie in den gemeinsamen Kampf gegen Einwegmüll zu stecken, und es als ein Team zu tun, hat unsere Erfolgschancen erhöht. Ich habe Wissen und Fähigkeiten an den Tisch gebracht, die sonst niemand hatte, und habe umgekehrt vom Wissen und den Fähigkeiten der Anderen profitiert. Statt mich allein auf alles konzentrieren zu müssen, konnte ich viel lernen und wurde inspiriert. Gemeinsam ging und geht mehr, und eigentlich ist das sehr oft der beste Weg vorwärts. Ich war so zwar weder in Interviews noch in Podcasts, Markus Söder hat keine Ahnung, wer ich bin, und Kanzler werde ich wahrscheinlich auch nicht mehr — dafür fühlte ich mich in der Zweiten Reihe ziemlich wohl und konnte viel bewegen. Und RECUP ist mittlerweile das weltweit erfolgreichste Mehrweg-Pfandsystem für To-Go-Geschirr. Guter Deal, alles in allem.
Und heute? Ich glaube, über die letzten paar Wochen bin ich auf ein, zwei sinnvolle Projekte für mich gestoßen. Ich weiss zwar noch nicht, ob und wie ich damit irgendwann einmal Geld verdienen kann, und in der jetzigen Phase bin ich auch noch solo, aber hey — es heißt “Vision” und nicht “Beschreibung des Ist-Zustandes”, und irgendwo muss man ja anfangen.
Also nein: ich bin nicht versaut für’s weitere Berufsleben. Ich habe nur sinnvollere Ansprüche an mich und meine Umgebung. 😉
Dieser Post ist Teil meines “Fresh in Flensburg”-Newsletters. Ab Mitte April 2022 schreibe ich für knapp 6 Monate jede Woche eine Mail mit Eindrücken, Erlebnissen und vielleicht auch Fotos zu und aus “meiner” neuen Stadt. Ausgabe #25 wird das Staffelfinale.
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Siehe “Wie wir bei RECUP Gehalt verhandeln” (2017). ↩︎
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Jemandem den Tag durch einen guten Kaffee oder etwas Aufmerksamkeit zu verschönern, kann auch sinnvoll sein. Gemeinschaft ist wichtig. ↩︎
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Ein “Feld bestellen”, get it? 🤡💩 ↩︎