Fresh in Flensburg #16: Klimaflucht

Trigger-Warnung: Klimaveränderung.

Es ist definitiv zu heiß für ungetrübt gute Laune.

August 2021: “Flensburg ist toll, und die Wetterlage hier oben ist super! Ich glaube, hier wird es auch nicht so wahnsinnig heiß, wegen Ost- und Nordsee nebenan, es wird weniger extreme Ausschläge geben, was glaubst Du?"“Sehe ich genau so, let’s do this!"

August 2022: “Holy shit, es ist bitte WIE HEIß in München‽ Ist Dir klar, dass wir auf eine gewisse Art Klimaflüchtlinge sind‽ 😳”

Wenn ich dieser Tage auf die Wetterkarte von Deutschland schaue, sehe ich tiefrote Zahlen. Wälder brennen und vertrocknen; der Harz (wo ich geboren bin und wo meine Blutfamilie wohnt) ist in großen Teilen nahezu kahl, dahingerafft von jahrzehntelanger Monokultur, von Trockenheit und von Borkenkäfern in einer fatalen Abfolge. Große Flüsse und Seen trocknen rapide aus, und Süddeutschland erreicht teilweise subtropische Temperaturen. Die Wetterextreme rund ums Jahr werden härter, das haben wir selbst die letzten zehn Jahre schon in München beobachtet. Trinkwasser wird auch hierzulande öfters knapp.

Wir als Menschheit sind in der Phase angelangt, in der das Fortschreiten der exponentiellen Klimaveränderungen spürbar wird, und ich will nicht lügen: Es macht mir Angst. Nur Idioten haben keine Angst davor. Ohne Übertreibung: ich bange um die Meinen südlich von mir, und hoffe, dass sie die wachsenden Extreme weiter gut überstehen werden. Das wird nichts, was man aussitzen kann, dies ist nun unser ständiger Begleiter. Dana und ich nehmen die Veränderungen schon seit Jahren wahr, wie viele andere aufmerksame Menschen auch, nur werden sie zunehmend drastischer.

Aber unsere Einschätzung hat sich bisher bewahrheitet; auch hier wird es warm und teils auch heiß, ja, aber die nördlichen Meere fangen Einiges ab, gleichen die harten Ausschläge noch aus. Und auch wenn ich die Sonne und den Sommer echt mag und geniesse: Die Stimme im Hinterkopf gibt keine Ruh'. Ich weiß, dass sie Teil eines Chores ist, dass nicht nur ich diese Stimme im Kopf höre, nur verbessert das halt die Situation nicht.

Foto-Kollage: links ein voller Brombeerbusch; rechts Blick über die Flensburger Förde mit einer Möwe auf einem Stein, dahinter ein Segelboot, in der Ferne die dänische Küste
Heisser Sommer: Die Brombeeren wachsen wie Unkraut, und die Flensburger Förde ist immer noch der beste Platz, um runterzukühlen und Energie zu tanken

Trotzdem bleibt mein Optimismus, auch wenn er es schwerer hat als noch vor 5–10 Jahren. Vor vielen Jahren habe ich ein Interview mit dem Autor Kim Stanley Robinson gelesen1, in dem er ungefähr Folgendes gesagt hat: “As a species, we must be optimistic, because we can’t afford to be pessimistic”.2 Das kann ich nicht vergessen, es ist für mich so ein Leuchtturm-Satz geworden — etwas, das mich leitet.

Optimismus für mich ist das Benennen der Realität, egal wie gut oder schlecht, verbunden mit der Hoffnung auf Verbesserung, und dem Anerkennen, dass diese sicher nicht ohne aktives Bemühen erreicht wird — aber dass sie erreicht werden kann. (Pessimismus dagegen ist Stagnation, das “Es wird eh nichts mehr, also warum sich bemühen?" — fatal.)

Ja, die Realität könnte echt besser sein. Klimakrise, Waldsterben, Pandemien. Aber eben auch: weltweit endlich mehr Energie (ahem) beim Ausbau der Erneuerbaren, Geld für die Erforschung neuer nachhaltigerer Energiequellen, eine Renaissance in Medizin und Biotechnologie. Wir werden überleben, auch wenn niemand sagen kann, wie die Welt dann in 50–100 Jahren aussehen wird, und wie hart die Zeit bis dahin wird.

Ich werde meinen Teil dazu beitragen, klein oder groß, aber dazu muss ich (biologisch) funktionieren, und das kann ich besser bei kühleren Temperaturen. Und vielleicht bedeutet das in ein paar Jahren einen weiteren Umzug — mal sehen.

Aaaaaaaaaaaaaanyways.

Ich komme vermutlich demnächst an den Punkt, an dem ich genug Brombeeren hatte. Never thought I’d see the day.

Oh, und lest mehr Kim Stanley Robinson! Er schreibt optimistische Science Fiction (Optimismus wie von mir beschrieben). Oft spielen die Handlungen in der nahen Zukunft, er extrapoliert dafür sehr gekonnt Entwicklungen und Probleme im Heute, zeigt Auswirkungen und auch immer mögliche Lösungen auf, gepaart mit viel Hoffnung und Ideen. Much, much love.


Dieser Post ist Teil meines “Fresh in Flensburg”-Newsletters. Ab Mitte April 2022 schreibe ich für knapp 6 Monate jede Woche eine Mail mit Eindrücken, Erlebnissen und vielleicht auch Fotos zu und aus “meiner” neuen Stadt. Ausgabe #25 wird das Staffelfinale.

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  1. Ich bin mir sicher, es war KSR, aber nachdem ich das Interview nicht mehr finde, kann ich es nicht verifizieren. Sorry. ↩︎

  2. “Als Spezies müssen wir optimistisch sein, denn wir können uns Pessimismus nicht leisten." ↩︎

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Carlo Zottmann @czottmann