Fresh in Flensburg #15: Das Ich und die Beeren

Vor einigen Wochen erwähnte mein Meditationslehrer Jeff in einer Session ein Gedankenexperiment des Schriftstellers und Mystikers Jean Klein:

Obwohl sich Dein Körper und Dein Geist seit Deiner Kindheit dramatisch verändert haben, hast Du immer das Wort “Ich” benutzt, um Dich selbst zu benennen. Was ist dieses “Ich”, das Dein Leben von der Kindheit bis heute erlebt hat, durch alle Veränderungen hindurch, das selbst stets unverändert geblieben ist?1

Seitdem vergehen keine zwei Tage, in denen ich nicht mindestens einmal über diese Frage nachdenke.

Was bin ich? Welcher Teil von mir ist “ich”? Kombiniert mit dem Wissen um die biologische Zellerneuerung2 gelange ich dann sehr schnell zu irritierend tiefgreifenden philosophischen Überlegungen: bin ich als Person, als Mensch, vielleicht eine Version vom Schiff des Theseus‽ What is happening aaaaaaaaaaah 🤯

Es ist toll, sich Zeit für so etwas nehmen zu können.

Ich mag Jeff Warren,3 weil er grundsätzlich einen sehr pragmatischen Blick auf das Meditieren vermittelt, ohne viel woo woo: auf das Minimum reduziert benötigt eine Meditation nur zwei Dinge von Dir: “you just have to sit and exist”. Du kannst nichts falsch machen! Das schaffe ich also immer; aber wenn es mal nicht so gut läuft, dann hatte mein Nervensystem wenigstens für ein paar Minuten eine Pause, und das ist nie verkehrt.

Hin und wieder aber streut er (grinsend) auch solche Sessions ein, die allerdings kein Muss sind. “Let’s get a bit weird, but feel free to ignore it!" Nicht alle davon liegen mir, zugegeben, nur diese hat mich kalt erwischt. Was … ist … mein Ich?

Was ich zumindest mit Bestimmtheit sagen kann: ja, seit meiner Kindheit hat sich sehr viel verändert, in Körper und Geist … nur nicht meine Liebe zu Beerenfrüchten, diese ist keusch und rein und für die Ewigkeit.4

Erwähnte ich schon, dass man an sehr vielen Stellen in der Stadt wild wachsende Brombeeren, Himbeeren und Johannisbeeren finden kann? Nein? Man kann an sehr vielen Stellen in der Stadt wild wachsende Brombeeren, Himbeeren und Johannisbeeren finden, es ist glorreich! Und ich spreche hier nicht von vereinzelten Büschen — das Zeug wächst an der Förde wie Unkraut. Im letzten Monat allein habe ich händeweise Selbstgepflücktes gegessen, und ich werde dessen nicht überdrüssig. Ich hatte Flashbacks an die Zeit als Kind, als ich mit vollen Backen im Wald nahe dem Campingplatz inmitten hüfthoher Blaubeersträucher stand.5

Zusammen mit den vier Bäckereien im 500 m-Radius um die Wohnung herum ist Flensburg bisher ein veritables Schlaraffenland! Mit dem Geld, das wir im Supermarkt nicht für Obst ausgeben mussten, haben wir unseren Umzug schon zur Hälfte re-finanziert.

Nom nom.


Dieser Post ist Teil meines “Fresh in Flensburg”-Newsletters. Ab Mitte April 2022 schreibe ich für knapp 6 Monate jede Woche eine Mail mit Eindrücken, Erlebnissen und vielleicht auch Fotos zu und aus “meiner” neuen Stadt. Ausgabe #25 wird das Staffelfinale.

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  1. “Even though your body and mind have changed dramatically since childhood, you’ve always used the word “I” to refer to yourself. What is this “I”, the one who has experienced your life from infancy until today, through all the changes, that has itself remained unchanged?" ↩︎

  2. Das Gros der körpereigenen Zellen erneuert sich periodisch ein Leben lang, aber nicht alle. Die Zellen des zentralen Nervensystems z.B. tun es nicht. ↩︎

  3. Jeff Warren ist u.A. einer der Guides in der Meditations-App Calm, die ich seit mehreren Jahren benutze. ↩︎

  4. Solide Überleitung ist solide. ↩︎

  5. gif ↩︎

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Carlo Zottmann @czottmann