Fresh in Flensburg #17: Raus aus der Stadt

Wenn ich es beschreiben möchte, vermeide ich den Begriff “wandern” bewusst.

“Wandern”, das klingt nach großem Rucksack, Anglerhut, nach festem Schuhwerk und Jakobsweg. Nach Hochschullehrern im Ruhestand und dem vergnüglichen Schnaufen durch die Rhön oder die Sächsische Schweiz. Nach klaren Tagesetappen und zeitlich geplantem Absacker im auf Google Maps gut bewerteten Restaurant.

Nichts gegen all das (you do you, liebe Hochschullehrer im Ruhestand!), aber das ist nicht, was ich tue. Zum Einen: Nur wenig bis keine Vorbereitung; nur kleines bis kein Gepäck; nur ein grober bis gar kein Plan. Zum Anderen: … hmmmm.

Hmm.

Einer meiner Lieblingsautoren, der in Japan lebende US-Amerikaner Craig Mod, schreibt großartige, berührende Essays und Büchern über das “Walking”. Seine Walks sind sehr oft sehr lang; genügen mir meist 5–10 km, um mich zu leveln, so ist er oft über Tage hinweg unterwegs, durchmisst über hunderte Kilometer hinweg seine Heimat Japan oder auf Reisen England und Australien. Sie sind zu gleichen Teilen notwendiger Offline-Ausgleich, ein Ausatmen, ein Sammeln von neuer Kraft, Mediation, Inspiration, Glück, das Nachgehen von Neugier und das Zelebrieren von Menschen, Natur, Städten. All das, all das zusammen. And I get it: Beim Lesen seiner Essays spüre ich tief in mir drin ein andächtiges Nicken, die Worte und Gedanken resonieren. Das. Genau das ist es. Good stuff.

Nur: Diese Fülle an Bedeutungen macht es mir schwer, ein passendes deutsches Wort für diesen allumfassenden Begriff “Walk” zu finden. Oder… ist das Wandern, und Anglerhut und Pilgerweg sind optional‽

Aber vielleicht ist das genaue Benennen auch nicht notwendig; möglicherweise reicht die Beschreibung aus, so dass Du auch trotz meines Mangels an passenden Worten verstehst, welche Gefühle ich beschreiben möchte. Oder aber Du würdest auch nach hunderten weiteren Worten nur freundlich mit den Schultern zucken. (Beides okay, so oder so danke für’s Lesen.😉)

Sei’s drum: Ich wandere also.

An manchen Tagen ist kein Walk einfach keine Option, dann drängt es mich raus, Strecke machen. Vielleicht muss ich meinen Kopf lüften; vielleicht fühlt sich die Welt gerade mal wieder an wie ein viel zu enger Sweater; vielleicht stecken Ideen und Gedanken fest und brauchen das, was die alten Römer mit solvitur ambulando (“es wird durch Gehen gelöst”) beschrieben haben. Carlo braucht etwas Carlo-Zeit, let’s roll.

Kollage aus drei Fotos: Baumkronen von unten fotografiert; Carlo mit Rucksack; ein kleiner Waldsee mit Seerosen, umrandet von Laubbäumen
Carlo in the Woods: Der Roikier See ist eine kleine Perle im Wald … genau wie ich.

Die Runde heute führt mich zum Quellental in Glücksburg. Erstmal nach Westen, raus aus der Stadt. Hinter mir Mürwik, vorbei an gepflegten Reihenhäusern, durch die kleinen Straßen mit den schmucken Einfamiliendomizilen. Ich sehe die Strebergärten mit ihren immer viel zu kurzen Rasen, die der Sonne nichts mehr entgegenzusetzen haben, in denen die obligatorischen Mäh- bald durch Staubsaugerroboter ersetzt werden können, wenn dann nur noch Staub zwischen den Hecken und Büschen liegt. 🤷🏻‍♂️ Hinter der letzten Siedlung in Tremmerup empfängt mich der alte freundliche Wald wie eine kühle Dusche, die Hitze fällt von mir ab. Adäquat holprige Waldwege führen mich unter hohen Baumkronen an kleinen Seen und Moorflächen vorbei, ich erahne Meierwik mit seinem fantastischen Blick über die Förde mehr als dass ich es durch die Büsche sehe. Durch Zufall entdecke ich den Roikier See;1 die Reflexionen der Sonne zwischen all den Seerosen lässt mich fast erblinden, und ich habe Kindheit-Flashbacks an Zeltplatzurlaube und Faltboot-Ausflüge zu Waldseen. Kurze Pause für die obligatorische Handvoll Brombeeren, eine Radfahrerin ruft mir lachend “Guten Appetit” zu. Thanks, girl! Ich glaube, bis jetzt habe ich hier im Wald max. 10 Menschen auf Fahrrädern oder neben ihren Hunden gesehen; wir tauschen kurze freundliche “Moin!“s aus, und lassen uns sonst gegenseitig sein. Chill.

Eine halbe Stunde später erreiche ich das “Quellental”, ein schönes kleines Café/Restaurant am gleichnamigen Ausflugsgebiet direkt neben einem poshen Yachthafen. Hier kann man gut essen! Neue Erfahrung: nur die Kuchen sind ausg’schamt teuer und (schlimmer) der Kaffee ist dünnes Mittelmaß, trotz Siebträgermaschine. Ich hatte große Hoffnungen, Quellental.2 😢

Kollage aus drei Fotos: Kaffeetasse, Eistee-Glas, Speisekarte des 'Quellental' auf einem Café-Tisch; Blick durch einen Wald am Steilhang herab auf das Förde-Ufer; Blick über einen Radweg direkt am Förde-Ufer hinweg auf einen fernen Yachthafen bei Sonnenschein
Der Eistee war besser als der Crema. Aussicht und Umgebung lassen aber keinen Gram aufkommen.

Der Rückweg führt mich oben am waldigen Steilufer entlang, die Förde nur einen Steinwurf und/ oder schreienden Sturz entfernt. Das Quellental ist ein großer Wald, der auch einen Ruheforst beherbergt. Es ist schön und wundervoll ruhig hier, wirkt aber in den 25 m vor dem Abhang teilweise seltsam aufgeräumt. Die Lösung für dieses Rätsel: Menschen, die abends unten am Strand Lagerfeuer machen und dafür altes Holz benötigen, Feuerwarnstufe egal, schliesslich ist man direkt am Wasser. Nun ja.

Ich halte mich in Ufernähe, und komme nach einer knappen halben Stunde nach Meierwik, einem Ortsteil von Glücksburg, der nahtlos an Flensburg anschliesst (und somit definitiv näher an FL als an Glücksburg liegt). Dann kommt Solitüde, wo ich mich jedesmal auf’s Neue frage, wie ich wohl an so ein be-nei-dens-wert gelegenes Grundstück komme, und damit bin ich fast schon wieder daheim.

Knapp 13 km; ich bin ausgepowert und zufrieden. Die Probleme der Welt konnte ich nicht lösen, aber zumindest weiß ich wieder, dass ich das auch nicht muss.

Ganz egal, wie ich es nenne: Walk, Wanderung, whatever. Es tut mir gut.


Dieser Post ist Teil meines “Fresh in Flensburg”-Newsletters. Ab Mitte April 2022 schreibe ich für knapp 6 Monate jede Woche eine Mail mit Eindrücken, Erlebnissen und vielleicht auch Fotos zu und aus “meiner” neuen Stadt. Ausgabe #25 wird das Staffelfinale.

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  1. Wie erwähnt: “nur ein grober bis gar keinen Plan”. ↩︎

  2. GIF, Steve Carrell in “The Office”, er sagt “okay” und hat Tränen in den Augen ↩︎

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Carlo Zottmann @czottmann